Gerrit Wustmann: Weltliteratur-Aktivist

Gerrit Wustmann © Helen Pass

Ob in Kultur-Rezensionen, in Uni-Seminaren oder auf Literatur-Bestenlisten – wo Weltliteratur steht, ist meist Westliteratur drin. Autorinnen und Autoren aus Asien, Afrika und Lateinamerika werden, bis auf wenige Ausnahmen, ignoriert. Darüber hat Gerrit Wustmann ein Buch geschrieben und verrät hier, was uns entgeht und was Kulturjournalisten, Verleger und Vermittler besser machen können.

Gerrit, ich habe letztens den türkischen Klassiker „Madonna im Pelzmantel“ von Sabahattin Ali gelesen – ein extrem gutes Buch – und mich gefragt: Warum kenne ich kaum türkische, chinesische oder afrikanische Bücher?

Lass mich mit einer Gegenfrage antworten: Wie oft begegnest du zum Beispiel türkischer Literatur im Alltag? In Buchhandlungen? Im Feuilleton?

So gut wie nie. Vor allem sehe ich deutsche, europäische, nordamerikanische Literatur. Zumindest ist das mein Eindruck.

Der Eindruck ist korrekt und lässt sich belegen: Diese Literaturen dominieren den deutschen Buchmarkt. Vor allem die großen Publikumsverlage, die im Handel überrepräsentiert sind, wagen kaum noch den Blick über den Tellerrand, aus Angst, Verluste zu machen. Dabei könnten sie sich das locker leisten. Andererseits machen sie auch deshalb Verluste, weil sie die Bücher schlecht vermarkten.

Inwiefern?

Achte mal drauf: Auf locker jedem zweiten türkischen oder arabischen Buch in einem Publikumsverlag ist eine Moschee auf dem Cover. Die Zielgruppe ist von diesen Klischees längst völlig genervt – neue Leser gewinnt man damit nicht. Die meisten Kleinverlage haben das verstanden und geben sich deutlich mehr Mühe mit Cover, Klappentext und co.

Wer ist schuld an dieser Einseitigkeit: Das Feuilleton, die Verlage, unser Bildungssystem, alle zusammen?

Alle zusammen. Im Feuilleton gibt es zu wenige, die sich mit nichtwestlicher Literatur auskennen. Und zu viele, die sie nicht ernst nehmen – obwohl sie kaum nichtwestliche Bücher gelesen haben. Und die Kleinverlage werden fast konsequent ignoriert. Viele von ihnen sind sehr engagiert und stets auf der Suche nach Neuem. Aber weil sie im Buchhandel einen schweren Stand haben und im Feuilleton kaum vorkommen, erreichen sie nur ein kleines Publikum. Unser Bildungssystem ist eurozentrisch, nichtwestliche Themen werden kaum behandelt. Goethe lernt jeder in der Schule kennen. Von seinem West-östlichen Diwan zum persischen Klassiker Hafez ist es ein logischer Schritt – der nicht gegangen wird.

Weltliteratur by Gerrit Wustmann (Sujet Verlag)

Dein Buch sagt: Wenn irgendwo „Weltliteratur“ steht, etwa in Uni-Vorlesungen oder auf Bestenlisten, geht’s meist um Westliteratur: europäische und angelsächsische Bücher. Vielleicht fragt sich auch mancher: Reicht doch auch? Warum müssen wir unbedingt zum Beispiel arabische Literatur lesen? Was sagst du dazu?

Es ist eine traurige Tatsache. Ich habe mir bei der Recherche zum Buch hunderte Listen angesehen, mit immer dem selben Ergebnis. Zu deiner anderen Frage: Natürlich muss niemand beispielsweise arabische Literatur lesen. Aber man sollte. Wir verpassen sonst viel, und wir verharren in einer eurozentrischen Perspektive. Wir bringen uns selbst um prägende Leseerfahrungen. Das verzerrt den eigenen Blick auf die Welt. Es ist übrigens gar nichts dagegen einzuwenden, westliche Literatur zu unterrichten oder Hitlisten westlicher Literatur aufzustellen. Nur sollten wir das auch so benennen und vom Begriff 'Weltliteratur' die Finger lassen.

Wie ist es denn eigentlich in den nicht-westlichen Ländern: Lesen sie auch nur ihre eigene Literatur?

Natürlich kenne ich nicht die Buchmärkte der ganzen Welt. Aber beispielsweise in Iran, der Türkei oder vielen arabischen Ländern oder auch in China gibt es haufenweise Übersetzungen deutscher Literatur und ebenso europäischer und nordamerikanischer Literatur. Das Interesse ist groß. Ich habe den iranischen Schriftsteller und Übersetzer Mahmoud Hosseini Zad um konkrete Zahlen für Iran gebeten. Allein von 2015 bis 2018 wurden über fünfhundert deutsche Bücher ins Persische übersetzt. Umgekehrt waren es im selben Zeitraum etwa zehn.

Manche fragen sich vielleicht: Sind die westlichen Bücher wichtiger und besser geschrieben? Ist die europäische und angelsächsische Literatur vielleicht doch wegweisend für die ganze Welt? Oder sind wir vielmehr ignorant?

Das ist nicht nur ignorant, es ist auch arrogant, entspricht aber durchaus der hier vorherrschenden Haltung. Richtig ist, dass die heute so populäre Erzählprosa eine westliche, europäische Erfindung ist. In weiten Teilen der Welt war noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts die Lyrik vorherrschend, die, das nur am Rande, im Westen ebenfalls ein Nischendasein pflegt. Nichtwestliche Autorinnen und Autoren haben sich anfangs oft an europäischer Literatur orientiert, wenn sie Romane und Kurzgeschichten schrieben. Im Laufe der Jahrzehnte haben sie sich dann davon gelöst und eigene Formen, Themen, Strukturen entwickelt. Die Literatur aus Asien, Afrika und Lateinamerika ist heute nicht weniger vielfältig, nicht weniger relevant, nicht weniger lesenswert als ihre hiesigen Pendants

Was können Kulturjournalisten besser machen?

Ein Beispiel: Als vor einiger Zeit der neue Roman von Michel Houellebecq erschien, wurde er in jeder Zeitung, jedem Print- und Onlinemagazin, jeder Literatursendung besprochen. Warum? Weil Houellebecq als relevant gilt. Eine Kollegin von mir formulierte es so: Alle besprechen ihn, weil alle ihn besprechen. Der Eindruck von Relevanz wird durch Präsenz erzeugt. Unterm Strich ist es gleich eine doppelte Ressourcenverschwendung.

Warum denn das?

Weil ein Houellebecq diese Aufmerksamkeit gar nicht braucht. Wer sich dafür interessiert, kriegt mit, dass es ein neues Buch von ihm gibt. Und auch alle anderen werden unweigerlich über ihn stolpern, weil sein Buch natürlich der Toptitel im Verlagsprogramm ist und entsprechend in jeder Buchhandlung platziert wird. Wozu aber brauchen wir ein Feuilleton, das uns das ohnehin Offensichtliche unter die Nase hält? Viel spannender wäre doch ein Feuilleton, das sich auf die Suche begibt außerhalb der Programme der großen Publikumsverlage. Ein Feuilleton, das uns hilft, Entdeckungen zu machen, uns Bücher empfiehlt, auf die wir sonst nicht gekommen wären.

Hat sich nicht inzwischen doch noch einiges bewegt? 2021 wurde Abdulrazak Gurnah mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, ein tansanischer Autor.

Und 2006 war es Orhan Pamuk und natürlich lassen sich noch zig weitere Beispiele herausgreifen. Über den Nobelpreis für Gurnah habe ich mich sehr gefreut. Nur muss man sich bewusst machen, dass gerade mal etwa zehn Prozent der Nobelpreise an nichtwestliche Autorinnen und Autoren vergeben wurden, und bei sämtlichen anderen Preisen ist es ebenso oder noch schlimmer. Die aktuell einsame Ausnahme, zumindest in Deutschland, ist der von Litprom jährlich vergebene LiBeraturpreis. An manchen Stellen, in manchen Jurys findet zwar ein Umdenken statt, aber das geht nur sehr sehr langsam voran.

Wie können wir, normale Leser, auf neue Bücher kommen?

Zum Beispiel, indem man sich mal bei den kleineren, unabhängigen Verlagen umsieht. Es gibt unzählige davon, viele sind aber nur einem Insiderpublikum bekannt. Eine Möglichkeit ist, sich den Hashtag #indiebookday auf Twitter oder Facebook anzusehen. Dort werden einmal im Jahr Bücher aus unabhängigen Verlagen präsentiert – da findet garantiert jeder etwas. Dann gibt es den Weltempfänger von Litprom – eine Bestenliste, die sich ausschließlich auf Literatur aus Asien, Afrika und Lateinamerika konzentriert. Wenn man online Verlage gefunden hat, deren Programm einen interessiert, sollte man schauen, ob es einen Newsletter oder eine Social Media-Präsenz gibt und diese abonnieren. Denn viele machen auch Veranstaltungen, Lesungen, und das sind gute Gelegenheiten, tiefer einzutauchen.

Deine Empfehlungen: Wie würde eine „inklusive“ Weltliteratur-Liste aussehen? Welche Bücher dürften darin nicht fehlen?

Eine solche Liste kann niemand allein aufstellen. Niemand spricht genug Sprachen und kennt sich so gut in den Literaturen von knapp zweihundert Ländern aus. Etwas einfacher wäre es, wenn man sich nur auf in der eigenen Sprache vorliegende Übersetzungen konzentriert, aber da stößt man rasch an Grenzen, denn aus vielen Ländern ist nichts oder nur sehr wenig ins Deutsche übersetzt. Man müsste sich schon die Mühe machen, Autoren und Literaturwissenschaftler aus sehr vielen Ländern und Regionen zu fragen. Egal, welchen Ansatz man wählt: Wenn eine Liste zu deutlich mehr als der Hälfte aus Westliteratur besteht, hat der Begriff Weltliteratur da nichts verloren.

Heißt das, du kannst keine Empfehlungen geben?

Doch, aber ohne diesen Absolutheitsanspruch. Du hast Sabahattin Ali gelesen und mochtest ihn. Dir würde ich Doğan Akhanlıs Roman „Madonnas letzter Traum“ in die Hand drücken. Es ist eine Art Fortsetzung zu Sabahattin Alis „Madonna“, eine Reise zwischen Berlin und Istanbul, wie das Vorbild, eine Auseinandersetzung mit den Gräueln des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt ein literarischer Brückenschlag – und, um es ganz simpel zu sagen, ein ebenso lesenswertes Buch. Es wird dir gefallen.

Weltliteratur von Gerrit Wustmann könnt ihr neben den üblichen Orten direkt beim Verlag kaufen.

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