Julia Bach: Live-Illustration aus Hamburg

Julia Bach | www.zeichenkind-illustration.de

Julia Bach | www.zeichenkind-illustration.de

Schnell, subjektiv und mit einer Geschichte dahinter – das ist Reportage-Illustration. Julia Bach aka Zeichenkind lässt diese lange vernachlässigte Kunst auferstehen und zeichnet live auf Kongressen, Konzerten oder Ausstellungen, für Zeitungen und Blogs. Die Illustratorin und Grafikdesignerin aus Hamburg erzählt, wie ihre Zeichnungen entstehen, welche Vorteile Illustration gegenüber der „klassischen“ Fotografie hat und warum sie keine Graphic Novels mag. 

Reportage-Illustration – ist es nicht ein bisschen wie im 19. Jahrhundert, bevor Fotografie verbreitet war?  
Genau! 

Wie kamst du darauf?  
Durchs Ausprobieren. Ich hatte im letzten Jahr viele Veranstaltungen besucht, auf denen ich live illustriert habe. Da habe ich gemerkt, dass ich megaschnell auf Events zeichnen kann, live, mit Farben, und dass das nur wenige können.  

Du zeichnest auf Events, Lesungen oder Konzerten, aber auch auf Kongressen zu eher sachlichen Themen – meist wird das alles fotografisch bebildert. Welchen Vorteil hat die Illustration? 
Diese ganzen Kongresse sehen meist mega langweilig aus, man sieht einen Redner und die Hinterköpfe vom Publikum oder Leute, die mit einem Glas Sekt rumstehen – das könnte überall sein. Meine Idee ist, das mit Illustration aufzulockern. Ich habe mal einen IT-Kongress bebildert und deren CI, das waren farbige Dreiecke, in die einzelnen Beiträge eingezeichnet. Das sieht viel besser aus als generische Fotos von jemandem auf der Bühne, der irgendwas ins Mikro spricht. Die Bilder sind emotionaler, können eine Geschichte erzählen. Es ist schon etwas Ungewöhnliches, viele können mit dem Begriff Event-Reportage noch nicht viel anfangen. Aber ich sehe da wirklich großes Potenzial. 

Geht es auch in Richtung visueller Journalismus? 
Richtig. Außerdem geht es megaschnell. Ich habe einmal für einen Blog eine Gesprächsrunde beim Filmfest Hamburg gezeichnet. Die Bloggerin war überrascht, wie günstig das ist. Du zeichnest ja vor Ort und bist sofort fertig, musst nicht erst mehrere Entwürfe machen und tagelang daran arbeiten. Du hast diese Erfahrung gesammelt und du wendest sie einfach an.  

© Julia Bach | Zeichenkind

© Julia Bach | Zeichenkind

Was heißt günstig, von welchen Preisen reden wir ungefähr?
Momentan berechne ich zwischen 120 bis 240 Euro für eine Livezeichnung in digitaler Form, ohne Korrekturwünsche. Durch diverse Nutzungsrechte kann man den Preis nach oben oder unten verschieben. Die Originale oder besser aufgelöste Dateien für den Print würden preislich natürlich höher liegen. Je mehr ich daran arbeiten muss und je breiter die Nutzungsbedingungen, desto höher der Preis. Wenn die Preise und der Aufwand ganz genau vorher definiert sind, werden beide Seiten glücklich.

Du beschäftigst dich ja schon seit einer Weile mit dem Thema Illustration und Journalismus und sammelst Material für ein Buch. Wie hat das angefangen? 
Ich habe das Buch Reportage Illustration von Gary Embury und Mario Minichiello entdeckt und war wirklich erstaunt, wie alt dieses Thema ist. Dieser Ansatz ist sehr spannend: Ich zeichne gerade total subjektiv ein Ereignis, das sehr emotional ist, und das wird sofort publiziert, ohne Bearbeitung oder kaum bearbeitet. Im deutschsprachigen Raum ist das Thema kaum präsent, von diesem Buch gibt es auch keine deutsche Übersetzung. Es gibt Bücher über Urban Sketching, das wird oft zusammengeworfen.

Wo liegt der Unterschied?
Im visuellen Journalismus geht es nicht darum, etwas abzubilden, sondern eine Botschaft zu transportieren. Es ist ganz wichtig, dass eine Zeichnung eine Geschichte erzählt. Ich folge vielen visuellen Journalisten auf Instagram, und ich bin wirklich erstaunt, wie unpopulär die sind (lacht). Vielleicht legen sie aber auch nicht so viel Wert darauf. 

Im Gegensatz zum Foto ist eine Illustration in einem Text sehr anpassungsfähig.

Worauf muss man achten, damit am Ende ein harmonisches Bild aus Illustration und Text entsteht?
Das ist meine Lieblingsfrage (lacht). Als Grafikdesignerin habe ich mich viel und gerne mit dem Thema Layout beim Zeichnen beschäftigt. Im Gegensatz zum Foto ist eine Illustration in einem Text sehr anpassungsfähig. Sie sollte eine flexible Form haben: Auslaufende Linien, reizvolle Farbflecken im Hintergrund, Andeutungen. Dann kann man sie nicht nur auf die Spaltenbreite, sondern auch ganz frei im Text einsetzen. Wie ein Zitat, das lange Texte auflockert. 

Du hast BWL und Sozialpädagogik studiert. Wie kamst du zum Zeichnen? 
Die Frage ist eher, wie ich zu BWL und Sozialpädagogik gekommen bin! Ich habe schon immer gezeichnet, aber für meine Familie war es kein ernsthafter Beruf. Also fing ich an, mit einer Freundin zusammen BWL zu studieren. Nach einem Semester habe ich in den Vorlesungen nur noch gezeichnet. Ich wollte eigentlich immer an der HAW studieren, aber hatte lange Zeit Angst, dass der Studiengang nur etwas für die wäre, die es sich halt leisten können. Als ich zu Sozialpädagogik wechselte, habe ich endlich gemerkt, dass ich nicht drum herum komme. Zum Glück. Das Studium war die beste Zeit meines Lebens. 

2007 warst du damit fertig. Was kam dann?
Dann bin ich in die Werbung gegangen. Nach zwei Jahren habe ich das geschmissen und bin selbständig geworden – und seitdem bin ich am Suchen (lacht). Ich habe lange alles gleichzeitig gemacht, was natürlich nicht zum finanziellen Erfolg führt, und stand irgendwann kurz vorm Burnout. Anfang des Jahres habe ich mich auf Reportage-Illustration fokussiert, vor allem zum Thema Hamburg. Theoretisch geht es überall, aber ich bin hier vor Ort, ich liebe diese Stadt und weiß viel darüber. Nische ist ein blödes Wort, aber ich habe gelernt, dass es wichtig ist, sich auf ein Thema zu fokussieren. Dann bist du nicht abgelenkt und wirst besser wahrgenommen.

Bei Illustration denkt man schnell an Kinderbücher. Hast du das auch schon mal gemacht? 
Nein, das interessiert mich überhaupt nicht. Buchillustration finde ich generell schwierig. Der Sinn eines Buchs ist ja, eine Sache so zu schreiben, dass man sie sich vorstellen kann. Ich habe mal ein wunderbares Buch gelesen, Die alltägliche Physik des Unglücks von Marisha Pessler. Sie hat es selbst illustriert. Und das hat mich mega gestört. Wenn du ein Buch liest, hast du ja einen eigenen Film im Kopf und ich finde, dass Illustrationen dabei eher stören. Illustrierte Sachbücher finde ich toll, aber Romane zum Beispiel gehen gar nicht.  

Du magst generell das geschriebene Wort und postest auf Facebook interessante Wortkreationen. Interessieren dich Graphic Novels? 
Die sind mir auch zu bildlastig (lacht). 

Verstehe ich total. 
Ich habe als Kind auch keine Comics gelesen, Bilder lesen finde ich eher anstrengend. Bin ich nicht gewohnt. Ich besitze eine einzige Comicreihe, Transmetropolitan. Es ist eine Dystopie, da geht es um einen Reporter, der dubiose Geschichten in der Zukunft aufdeckt. Sehr spannend, aber auch da musste ich mich darauf einstellen. So etwas zu zeichnen, dazu habe ich keinen Reiz. Ich bin eher an längeren Texten interessiert.  

Einmal sagtest du „Ich zeichne nicht, ich nehme dem Papier das Licht“. Es ist ein Rausnehmen, wie ein Bildhauer. Ist es eine geläufige Technik? Für mich klingt das ungewöhnlich. 
Das habe ich für mich entdeckt. Normalerweise machst du vorher Komposition, überlegst, was du zeichnen willst. Hier geht es nicht darum, etwas Bestimmtes zu erzählen oder zu bewirken, sondern der Kreativität freien Lauf zu lassen und zu gucken, was passiert. Da geht’s aber eher in Richtung Kunst, das gilt nicht für Illustration. Es geht um Schattierungen, zum Beispiel mache ich grobe Striche mit Kohle aufs Papier und schaue, was ich davon dunkler machen kann, damit da etwas entsteht. Das hat etwas Archäologisches, es ist ein Suchen und Finden. Das ist quasi die andere Seite von mir, die ich jetzt erstmal nach hinten gestellt habe.

Die Kunst nach hinten stellen, was heißt das für dich konkret? 
Es ist eine Überlebenstechnik: Wenn es mir schlecht geht, mache ich das. Es geht eher darum, was ich zeige und veröffentliche. Gerade gibt es zum Beispiel eine Ausschreibung in einer Galerie, da werde ich auch eine Zeichnung einreichen. Aber ich werde es vielleicht nicht bei Instagram posten. Diese Zeichnungen sind mir immer noch teuer und lieb, ich werde sie auch ausstellen, aber zuerst möchte ich mich mehr in der Event-Reportage verankern. Ich möchte, dass man auf meine Seite guckt und genau weiß, was ich mache.

Macht dich das auch traurig, dass du dich zurechtschneiden musst?  
Ja. Das hat über zehn Jahre gedauert, dass ich mich dazu entschieden habe. Ich habe mich lange dagegen gesträubt und war anfangs sehr wehmütig. Aber jetzt merke ich, das erspart mir viel Kraft. Ich kann mich auf eine Sache konzentrieren, und die andere ist zwar da, aber die muss ich nicht pushen.  

Entweder ich denke nach oder ich zeichne. Wenn ich beim Zeichnen fühle, anstatt nachzudenken, werden die Sachen echter. 

Sprich, nicht jeden Aspekt des eigenen künstlerischen Schaffens sofort präsentieren.
Genau.  

Du hast auch mal gesagt, dass wenn du zu viel nachdenkst, dass dir das Ergebnis am Ende nicht gefällt. Kann man sich deine Arbeit als einen intuitiven Flow-Zustand vorstellen? 
Ja. Es geht darum, nicht über Striche und Flächen und Positionen nachzudenken.  Entweder ich denke nach oder ich zeichne. Wenn ich beim Zeichnen fühle, anstatt nachzudenken, werden die Sachen echter. 

 Hat es lange gedauert, bis du intuitiv zeichnen konntest? 
Das kam im Studium. Ich hatte die richtigen Professoren. Einer von ihnen hat uns durch ganz Hamburg gejagt und uns alles Mögliche zeichnen lassen, Karussells oder Zirkusveranstaltungen. Wir mussten sehr, sehr schnell sein. Ein anderer hat darauf bestanden, dass wir Modelle und Stillleben intuitiv zeichnen, also nicht alles genau wiedergeben, sondern mehr sehen, als was da ist. Er hat mich auch dazu gebracht, kindlichere Zeichnungen zu machen, Kontraste zu betonen, weg vom Realistischen ins Abstrakte. Da habe ich gemerkt, dass ich überhaupt intuitiv zeichnen kann. Vorher dachte ich, ich kann zeichnen, aber es wird nicht so schön, wie ich will. Und als ich aufgehört habe, schön zeichnen zu wollen, habe ich gemerkt: Krass, ich kann zeichnen.

Du arbeitest mit Kohle, mit Bleistiften oder mit Aquarell. Wie findest du die richtige Technik für ein bestimmtes Projekt? 
Wenn ich Zeit habe, probiere ich Dinge aus und mache Skizzen mit Bleistift, Tusche und Aquarell. Wenn es um Live-Zeichnungen geht, nehme ich das, was schneller geht. Ich fertige mehrere Zeichnungen parallel an, die müssen ja zwischendurch trocknen. 

Wie kann ich mir das vorstellen? 
Ich habe meistens drei Blöcke mit und Klemmen fürs Papier, damit sich das nicht wellt. Während die eine Zeichnung trocknet, lege ich sie ab und zeichne andere Sachen und wenn sie getrocknet ist, kann ich weitermachen. An einem Event entstehen zehn bis 20 Zeichnungen. Und dann nimmt man die, die besser aussehen. 

© Julia Bach | Zeichenkind

© Julia Bach | Zeichenkind

Wie sieht dein Arbeitsalltag aus? 
Tja. (lacht) Ich wünsche mir gerne einen Alltag. Rituale und Regeln verhindern Zerstreuung und Überforderung. Ich bin seit Jahren auf der Suche nach etwas Stabilität, aber es fällt mir mega schwer. Mein Alltag sieht so aus: Ich bringe mein Kind zur Kita, wenn es  nicht beim Vater ist – oder auch nicht (Stichwort Corona) und arbeite dann. Ich arbeite gern frühmorgens, was den kreativen Prozess angeht, Sachen ausdenken, Ideen aufschreiben. Live-Zeichnungen sind meist abends. Wenn mein Sohn dabei ist, handeln wir uns Zeiten für Spiele und gemeinsame Aktivitäten aus, sonst spielt er alleine, während ich arbeite. Ich habe einen sehr erfüllten Alltag. Und einen sehr coolen Sohn (lacht).

Zeichnest du jeden Tag? 
Ja. 

Work-Life-Balance: Was bedeutet das für dich?
Ich glaube, es geht dabei vor allem um Selbstbestimmung. Man spricht oft von Unternehmen als Familie, vor allem in Agenturen, um dich bei Gehaltsverhandlungen runterzudrücken, wo du sonst einfach funktionieren musst. Aber es gibt sie wirklich, diese Unternehmen, in denen du dich frei fühlen kannst. Ich sehe das bei Freunden, die selbstbestimmt arbeiten und sich die Projekte aussuchen können. 

Ein seltener Fall.
Ja und deshalb sehe ich persönlich den Traum eher in der Selbständigkeit. Das größte Problem dabei ist: Was Geld bringt, steht an erster Stelle. Die Kinder werden in die Kita geschoben, für Familie und Freunde haben wir Zeit, wenn wir nicht arbeiten. Das liegt schon auch an einem selbst, wie man das gestaltet. Aber das ist eine Theorie, eine Work-Life-Balance, das habe ich selbst nicht erlebt. Ich arbeite viel und werde größtenteils nicht dafür bezahlt. Ich habe erreicht, dass ich flexibel bin, allerdings verdiene ich zu wenig. Das ist nicht in Ordnung. Aber ich habe konkrete Ziele. Das macht zuversichtlicher. 

Kann man generell gut von Illustration leben?
Ich kenne Menschen, die gut von Illustration leben können. Ich musste bisher immer was anderes machen, Retouche oder Grafik. Das macht mir schon auch Spaß. Nur können die Unternehmen, für die ich gern arbeite, nicht viel zahlen, und mit denen, die gut zahlen, komme ich oft nicht klar (lacht). 

Das alte Problem. Was genau stört dich? 
Ich mag es nicht, wenn man nicht in die Prozesse eingebunden wird. Wenn du nur Zulieferer bist. Wenige legen Wert darauf, dich ausreichend zu informieren, und so ist es sehr schwierig, grafisch ein Problem zu lösen, wenn du die Hintergründe nicht kennst. Es geht auch um Wertschätzung. Ich mag auch nicht die interne Einstellung vieler Agenturen gegenüber den Kunden: Man kassiert Unmengen an Geld, und lästert im Hintergrund, dass die Kunden dumm sind und die geile Graphik und geile Lines nicht verstehen. Das gibt es leider oft bei großen Unternehmen.

Ich gehe niemals ohne Skizzenbuch aus dem Haus – sagen viele Illustratoren. Gilt das auch für dich? 
Ja. Außer zum Joggen (lacht). Mein Rucksack ist immer ziemlich voll mit Blöcken und Farben. Gestern war ich an der Alsterwiese mit Freunden. Da spielte eine Jazzband, ich habe mich vor sie gesetzt und sie gezeichnet.

Stichwort Inspiration. Immer wieder neue Ideen zu haben, musst du etwas dafür tun?
Ne. Ich habe eher Schwierigkeiten, aus meinen Ideen auszuwählen. Ich schreibe sehr viel auf und schöpfe daraus. Heute Nacht bin ich um zwei aufgewacht, weil ich zwei coole Ideen hatte, aber zu müde war, sie aufzuschreiben. Ich habe mich total angestrengt, sie mir zu merken (lacht). 

Hat das geklappt?
Ja! Eine war eine Collage für eine Doppelseite, ein Kind, das beim Träumen aus seinem Bett in den See springt. Das andere war ein Text, in dem es um Selbst-Suche geht. Früher dachte ich immer, ich muss einen Platz finden, ich weiß nicht, wo mein Zuhause ist. Und gestern kam mir die Idee: Ich suche nicht nach mir, sondern ich erschaffe mich. Ich male Konturen für mich und fülle sie mit Inhalten, die ich da haben möchte.  

Welche Bedeutung hat Social Media für dich? 
Das sind kleine Ausstellungen. Es geht um Kommunikation – man bekommt ganz schnell Feedback. Und auch ein bisschen Bestätigung. Ob das als Marketingtool funktioniert, weiß ich noch nicht.

Bei Auftragsarbeiten bist du an Deadlines und Vorgaben gebunden, musst deine Zeit und die Aufträge managen – nimmt dir der professionelle Aspekt der Arbeit manchmal die Kreativität? 
Ne. Das macht mir megaviel Spaß. Auch wenn die Kunden nicht so erfahren sind, bringe ich sie dazu, bestimmte Deadlines und Ziele zu setzen und zu erreichen. Jede Auftragsarbeit hat ein Ziel, die muss jemandem helfen, etwas darstellen oder bewirken. Ich kann nicht sagen: „Ich bin Künstlerin und kann heute nicht.“ Es geht um Zusammenarbeit, Lösungen finden, die für beide Seiten optimal sind – das gehört alles zum kreativen Prozess dazu.  

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