„Ich bereite mich exzessiv vor“: Die Kunst des Interviews

Anne Backhaus hat bereits unzählige Interviews geführt: auf dem Papier, vor der Kamera und sogar auf der Bühne. Außerdem bringt sie angehenden Journalisten die Kunst der Gesprächsführung bei. Sie sagt: Um eine gute Geschichte zu erfahren, darf man nicht direkt danach fragen. Und verrät, warum man den Fragezettel besser weglassen soll. 

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Wir sitzen gerade im Café Stark auf St. Pauli. Triffst du dich oft in Cafés für ein Interview? 

Eher selten. Es kommt natürlich auf das Interview an: Künstler trifft man ja oft in Hotelsuiten. Das mag ich gar nicht so gern. Es ist spannender, wenn jemand selbst einen Ort aussucht, wie zum Beispiel ein Café. Am besten ist es, wenn man die Leute zuhause trifft, da unterhält man sich auch ganz anders. Generell finde ich aber, kann man sich überall gut unterhalten. Auch im Bus. 

Hast du es schon mal ausprobiert? 

Im Bus noch nicht. Aber ich glaube, das würde gehen. 

Jeder Mensch hat eine interessante Geschichte zu erzählen: Wahr oder falsch?

Wahr. 

Und wie bekommt man sie aus ihm heraus? 

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Meistens indem man nicht direkt danach fragt. Das habe ich besonders in der Interviewreihe „Eins aus tausend“ gemerkt, in der es um das Foto auf dem Handy ging, das man niemals löschen würde. Wenn ich die Leute direkt fragen würde: „Was ist dir das Wichtigste auf Erden?“, würden die meisten sagen: Meine Familie, meine Kinder. So Sachen, die…

…bei allen gleich sind.

…ja oder die man von ihnen erwartet. Aber wenn du fragst: „Welches Foto würdest du niemals löschen?“, bekommst du die absonderlichsten Geschichten und merkst, was ihnen wirklich wichtig ist. Das sagt viel mehr über Menschen aus. 

Ein genialer Aufhänger. Wie kamst du darauf, aus dieser Frage eine Interviewreihe zu machen? 

Ich hatte selbst um die tausend Fotos auf dem Handy und musste welche löschen. Später habe ich übrigens lauter Zuschriften bekommen, dass man sein Handy ja upgraden könnte, und mit der Cloud (lacht)… darum ging’s ja gar nicht. Jedenfalls habe ich Fotos gelöscht. Am Ende blieben fünf übrig. Und jedes war anders. Ich dachte: Das muss doch bei anderen auch so sein. Darüber wollte ich mich unterhalten, zum Glück hat Spiegel Online dann ja gesagt.

Du stellst so gut wie nie W-Fragen. Absicht? 

„Warum?“, frage ich oft. Warum-Fragen mag ich sehr. Die sind ja bei manchen verpönt.

Wirklich?

Ich habe das jedenfalls mal so gelernt, vielleicht ist es veraltet. Ich hatte einen Kollegen, der Warum-Fragen gehasst hat. Er meinte, das wirkt so, als wäre man nicht gut vorbereitet. Das erlebe ich aber meistens anders: Oft denken die Leute nach einem „Warum?“ nochmal anders darüber nach, was sie gesagt haben. Und sonst ist mir wichtig, dass ein Interview eine Unterhaltung ist. Zum Beispiel das, was du da jetzt machst, mache ich nicht (deutet auf den Fragezettel auf dem Tisch). 

Bringst du nie einen Fragezettel mit? 

Doch, schon. Ich bereite mich exzessiv vor, versuche, wirklich alles zu lesen. Von einem Autor im besten Fall alle seine Bücher, nicht nur das neue, manchmal auch die Verfilmung.  Das geht natürlich nicht immer, bei einer tagesaktuellen Produktion kannst du das nicht machen, aber auch da gucke ich, was hat der vor zehn Jahren schon gesagt? Und in den letzten drei Gesprächen? Dann schreibe ich mir Fragen auf und nehme sie mit. Aber meine Erfahrung ist: Wenn ich es aufschreibe, präge ich es mir eh ein. Und wenn ich was vergesse, mein Gott, dann hat es vielleicht auch einen Grund. Für mich geht ein gutes Gespräch immer vor Vollständigkeit. 

Das klingt sehr entspannt. 

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Ich hätte mir tatsächlich gewünscht, jemand hätte es mir am Anfang gesagt: Pass mal auf, fahr mal hin, guck, was dich interessiert, und hör auf dein Bauchgefühl. Das klingt ein bisschen eso, aber darin liegt eine unglaubliche Kraft. Als junge Journalistin hatte ich da oft Panik, und ich nehme mal an, es geht anderen auch so: Da soll man einen berühmten Schauspieler interviewen und denkt, jetzt muss ich ihn zu allen seinen Filmen fragen, und darf bloß nichts vergessen. Schnell hat man eine Liste von 20 Fragen, und keine dabei, die einen, überspitzt gesagt, wirklich interessiert. Manchmal sind es ja auch Leute, die einen nicht zwingend total begeistern. Da muss man sich fragen: Was interessiert mich eigentlich an der Person? Und wenn man im Gespräch merkt: oh, der hat gerade was gesagt, das etwas in mir rührt, und worüber ich jetzt mehr wissen will – sich das zu trauen, ist schon eine Überwindung. Aber so entstehen meines Erachtens viel schönere Gespräche. 

Welches Interview ist dir am stärksten im Gedächtnis geblieben?

Von allen, die ich je geführt habe? Wow (überlegt). In der Top 5 rangiert auf jeden Fall Connie Palmen, die ich als Autorin sehr mag. Auch eine Herausforderung: Wenn man einen Autor toll findet, muss man sich selbst klarmachen, dass es nicht darum geht, dass der einen auch mag. Connie Palmen habe ich bei ihr zuhause in Amsterdam getroffen. Sie ist unglaublich nett, aber auch ein Mensch, den man schon… (überlegt lange), na ja, ich glaube, wenn sie sich langweilt, wird’s kein gutes Gespräch. Nachdem ich mich verabschiedet habe, bin ich durch die Gracht gegangen, hab ich mir ein Bier gekauft, mich hingesetzt und eine gute Stunde auf das Wasser gestarrt. Ich war wirklich alle. Ich wusste auch nicht mehr, ob das Gespräch gut lief oder nicht. 

Schön, dass es anderen auch mal so geht. 

Ja, da wird unter Journalisten oft nicht so darüber geredet, was ich merkwürdig finde. Aber bei solchen Gesprächspartnern, die einen fordern, ist es normal. Ein anderes Interview, wo ich so alle war, war mit Janosch. Er ist einer, der Interviews überhaupt nicht mag. Das habe ich am Anfang gemerkt. Und da hatte ich den Mut, zu sagen, okay, ich bin da jetzt nicht so krass hinterher. Ich habe mit ihm über ganz andere Sachen geredet und auch rumgeblödelt. Und dann hat er erzählt. Bekannte Menschen haben meist ja nicht besonders viel Lust auf Interviews, allein schon weil sie andauernd welche führen müssen. Manchmal wird damit geradezu kokettiert. Dabei gilt das ja für uns Journalisten eigentlich auch: Nach dem zehnten Schauspieler, der mir von der tollen Zusammenarbeit mit seinem Regisseur erzählt hat, freue ich mich über ein Gegenüber, mit dem ich mich wirklich unterhalten kann.

Es ist auch ein tolles Interview geworden. Nimmst du die Gespräche auf?
Ja. Manche wollen das ja nicht. Dann schreibe ich eben mit. Ist netter, wenn man sich angucken kann und nah an der Sprache des Gesprächspartners bleibt. Aber ich kann zum Glück inzwischen schnell schreiben. 

Lässt du deine Interviews autorisieren? 

Kommt darauf an: Einem erfahrenen Regisseur oder einem PR-Referenten biete ich das jetzt nicht an. Aber bei einer Studentin, die gerade ihr erstes Startup gegründet hat, von der ihre ganze Karriere abhängt, da finde ich das fair. Und wenn jemand das verlangt, sage ich natürlich nicht Nein. 

Wie lernt man, ein guter Interviewer zu sein? 

Viele Interviews machen! Und viele von den Kollegen lesen. Am besten lernt man durch Sachen, die nicht so gut gelaufen sind. Es ist wichtig, sich wohl mit sich selbst zu fühlen, entspannt zu sein, damit man auch ein Gegenüber ist. Mir geht es immer noch so: Ich hasse es, Interviews abzuhören. Da ist man ja nie so wahnsinnig glücklich mit sich. Es gibt immer den Moment: „Oh Gott, warum hast du nicht das gefragt! Scheiße!“ Über so etwas lernt man am meisten. Natürlich ist man mit sich selbst besonders ungnädig. Aber es ist ganz gut, auf so etwas zu achten, und es dann besser zu machen. In dem Moment, wenn man mit allem zufrieden ist, sollte man eh…

…in Rente gehen.

(lacht) …etwas anderes machen. Es wäre ja langweilig, so etwas abzutippen, und zu sagen: Ich bin der tollste Journalist auf Erden. Das fände ich schlimm. 

Hattest du mal ein Interview, das total schief gelaufen ist? 

Ich habe mal eins abgebrochen. Das war mit einem Schauspieler für „Eins aus tausend“. Da gehts ja um das Handyfoto, das man nicht löschen würde. Und das habe ich über die PR-Agenten auch so kommuniziert. Aber der kam da mit einem Foto vom Filmset seines neuesten Films an. Da war klar, das war nicht mal auf seinem Handy. Und das war ihm auch scheißegal. Nach drei Fragen habe ich gesagt: Wissen Sie was, ich glaube, jeder von uns hat etwas Besseres zu tun. Lassen Sie uns doch einfach hier aufhören. Er war überrascht, aber der PR-Agent sagte mir später, dass er das super fand.

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Stark. Ich hätte in dem Moment wahrscheinlich nicht gewusst, was ich machen soll. 

Ich war sauer! (lacht) Die Entscheidung fiel mir leicht. Da dachte ich, ich werde jetzt als Journalistin verarscht. Und das mache ich nicht mit. 

Wie viel gibst du in einem Interview von dir selbst preis? 

Ich mag Interviews, in denen das „Ich“ des Journalisten auftaucht, sehr gerne, aber nur dann, wenn der Journalist sein „Ich“ nicht permanent abfeiert. Es gibt schon Gespräche, wo ich schnell das Gefühl habe, da will der jetzt zeigen, wie cool er ist und wie viel er weiß. Das „Ich“ finde ich wichtig, um jemandem standzuhalten oder zu widersprechen: „Lügen Sie mich gerade eigentlich an?“ Man muss auch ein starkes Gegenüber sein, um jemanden dahin zu bringen, weiter zu erzählen, als er anfangs bereit war. Den besten Gesprächen merkt man an: Sie sind deswegen besonders, weil gerade diese beiden Menschen miteinander gesprochen haben. Und das eben nicht kopierbar wäre. 

Was interessiert dich besonders an Menschen? 

(überlegt) Die Abgründe, wahrscheinlich. Das Hadern, das Nichtwissen. Ich möchte nicht unbedingt zugucken, wie sich jemand wehtut, aber ich glaube, wenn jemand schon etwas erlebt hat, kriegt man durch ihn einen Einblick in eine andere Gedankenwelt. Bei einem spannenden Gespräch lernt man immer etwas dazu. Das gefällt mir am meisten – wenn mich mein Gesprächspartner überrascht.

Kommt es denn oft vor?

Ja, schon oft.

Welches Gespräch hat dich total überrascht? 

Ich wurde mal zu einem Interview mit einer sehr bekannten Person geschickt, die ich total uninteressant fand. In der Vorbereitung habe ich gesehen, sie erzählt seit 20 Jahren die gleiche Geschichte. Im Gespräch fing sie wieder an, von dieser krassen familiären Geschichte zu erzählen, und da sagte ich ganz freundlich: Ich frage mich, warum Sie seit 20 Jahren das Gleiche erzählen? Ist nicht mal Zeit für etwas anderes? Und das wurde ein super Gespräch. Das hatte ich nicht kommen sehen. Das kann natürlich auch total in die Hose gehen. 

Suchst du dir die Interviewpartner selber aus?

Ich kriege auch Aufträge, aber meist suche ich sie mir selbst. Dass der Chefredakteur anruft, und fragt: „Könntest du morgen bitte Jennifer Lawrence interviewen?“ ist mir noch nicht passiert (lacht). In der Regel selber suchen, nerven, noch eine Mail schreiben…

Rufst du potenzielle Interviewpartner auch ohne einen konkreten Auftrag an?

Das hängt von der Person ab. In der Regel frage ich die Redaktion zuerst. Je wichtiger sie ist, und je schwerer zu erreichen, desto eher muss man konkret sagen, wo es erscheint. Wenn du Angela Merkel anfragst und sagst: „Ich möchte mal gucken, wo es dann landet“ – das kannst du vergessen. Ab und an frage ich aber auch den Gesprächspartner zuerst: „Ich bin freie Journalistin, ich kann mir vorstellen es dieser, dieser und dieser Redaktion anzubieten, besteht denn überhaupt die Möglichkeit, denjenigen zu treffen?“ 

Führst du auch telefonische Interviews?

Ja, Service- und Experteninterviews kann man super am Telefon machen. Aber bei persönlichen Gesprächen ist es unerlässlich, die Leute auch zu treffen. 

Du gibst auch einen Interview-Kurs für Volontäre an der Akademie für Publizistik. Womit tun sie sich besonders schwer? 

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Wir üben das Interviewen, indem wir Interviewpartner einladen und das Ganze filmen. Viele wollen dann zu sehr Journalist sein und denken: „Ich muss den jetzt super-investigativ grillen.“ Klar, der Pressesprecher von Mercedes Benz packt nicht sofort aus, was im Haus alles schief läuft. Aber eine Antihaltung bringt gar nichts. Gelassen bleiben und „Warum?“ fragen ist viel besser. Oft haben die Ruhigen im Kurs am Ende ein viel besseres Gespräch, weil sie genau zugehört haben. Das ist unerlässlich. Manchmal ist es ja nur ein Halbsatz, aus dem eine Geschichte wird. Sie fragen auch viel im Bereich Verschriftlichung. 

Was kann ich streichen? 

Zum Beispiel. Passagen kürzen, auch mal einen Teil komplett rausschmeißen. Vielleicht kam das Gespräch erst ab der Hälfte richtig in Schwung, dann fange ich mit dem Teil einfach an. Oder es gab drei Themen, aber ich mache das Gespräch nur über eins. Ist schon in Ordnung. Klar, schreibst du vielleicht mal eine Frage hin, die es gar nicht gegeben hat (Anmerkung UnterEins: Jipp, letzte Frage). Wenn jemand sehr lange antwortet, musst du den langen Block unterbrechen. Ich finde es extrem wichtig, dass die Gespräche der Wahrheit entsprechen, aber eine gewisse Lesbarkeit geht vor.

Wie lange dauern deine Interviews im Schnitt?  

Ich finde, ein großes gutes Gespräch braucht immer mindestens eine Stunde. Aber wenn jemand wie Ryan Gosling jetzt nur eine halbe Stunde Zeit hat, dann treffe ich den auch nur eine halbe Stunde. Dann würde ich eher den Platz kürzen, als dass ich das aufblähe. 

Bei Ryan Gosling kann man auch ein schönes großes Foto drucken.

Das würde gehen (lacht). Ich finde es gut, ein bisschen Puffer in einem Gespräch zu haben, auch um am Anfang mal zu fragen, wie derjenige hingekommen ist oder so. Und auch mal Pause zu machen. Damit habe ich sehr gute Erfahrungen gemacht. Bei den Volontären habe ich oft erlebt, dass viele große Angst haben, nicht sofort nachzufragen. Aber nehmen wir an, ich stelle dir eine persönliche Frage. Und du antwortest knapp. Und mir reicht das irgendwie nicht. Dann kann man auch einfach schweigen und denjenigen angucken. Und warten. Natürlich ist es merkwürdig und man sollte nicht übertreiben. Aber meistens kommt da noch was. Und wenn nichts kommt, dann hast du mal zehn Sekunden nichts gesagt und fragst dann weiter.

Das ist auch eine Herausforderung.

Total. Ich habe mal für das Filmfest Hamburg die Interviewreihe „Unzensiert“ moderiert: Sechs Abende, sechs Gespräche, live übertragen auf der Bühne. Da gehst du natürlich ganz anders vor, weil du auch ein Publikum hast. All das, was Journalisten hinterher reinschreiben, diese ganzen klugen Sachen musst du sofort sagen, weil das Publikum sonst nicht versteht, worüber du redest. Und dann musst du noch den Bogen schaffen, zum Ende zu kommen – das Gespräch lenken. Da fand ich das manchmal ganz schlimm, nicht nochmal nachfragen zu können. Und gleich am Anfang habe ich eine Pause gemacht, und dachte: Hoffentlich funktioniert das. Ich wusste halt noch nicht genau, was ich da fragen will. 

Auf der Bühne!

Ja, zum Glück hat es funktioniert und da kam noch was. Letztendlich: Wenns schief geht, gehts halt schief. Es ist nur ein Gespräch. Was ist das Schlimmste, was passieren kann? Es ist noch nie eine Zeitung mit einer leeren Seite erschienen. Und das Internet wird auch nicht leer. 

Letzte Frage: Wie hab ich mich geschlagen? Hast du noch Tipps für mich? 

Ich würde echt versuchen, den Zettel wegzulassen. Du könntest zum Beispiel jetzt am Ende gucken, ob du noch irgendwas vergessen hast. Wenn ich von dir interviewt werde, und den Zettel sehe, denke ich: Puh, das sind 20 Fragen, oh Gott, was muss ich denn alles erzählen? Und wenn ich ein findiger Mensch wäre, der dir nichts Gutes will, könnte ich das von hier aus lesen, und mich danach ausrichten. So kannst du dir einen Überraschungsmoment verbauen. Wenn jemand seine Firma in ein gutes Licht rücken will, kann er das Gespräch ganz gut manipulieren. Sonst fragst du sehr schön nach, wirkst interessiert. Ich habe das Gefühl, ich habe dich jetzt nicht zu Tode gelangweilt. Das ist gut!

Finde Anne auf: Torial 

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