Das Magazin Socrates erzählt tiefgründige Sportgeschichten

Sportmagazin Socrates

Faith Demireli (34) besitzt viele Talente: TV-Korrespondent für den türkischen Sender NTV-Spor, Experte beim Streamingdienst DAZN, zuvor sechs Jahre lang Online-Redakteur bei Spox.com. Fehlt nur noch Print? Bingo! Demireli ist seit 15 Monaten Chefredakteur und Herausgeber von Socrates. Untertitel: „Das denkende Sportmagazin“. Ein Gespräch über Sportjournalismus mit Tiefgang. 

Interview: Mirko Schneider

Euer Sportmagazin hat eine Migrationsgeschichte. Magst du uns die erklären?

Gerne. Socrates ist seit April 2015 in der Türkei auf dem Markt. Wir erscheinen im größten türkischen Literaturverlag Can Yayinlari. Wenn ich dir gleich die Zahl der verkauften Hefte nenne, musst du sie unbedingt im richtigen Maßstab betrachten: In der Türkei spielt Print fast keine Rolle mehr. Es existieren extrem viele digitale Angebote. Die Menschen können mit einer Bank-App Sachen durchführen, die in Deutschland noch nicht möglich sind. In diesem Umfeld ist die Socrates-Auflage von 15.000 wirklich hoch. Wir sind in der Türkei das absatzstärkste Sportmagazin. (schmunzelt) Die 15.000 sind übrigens alles verkaufte Exemplare, da liegen nicht noch hunderte Hefte in Büros rum. Seit Oktober 2016 sind wir auf dem deutschen Markt. Für das erste Heft musste die geplante Auflage von 30.000 auf 48.000 erhöht werden. Wir liegen nach wie vor im mittleren fünfstelligen Bereich. In Deutschland herrscht nicht gerade ein Mangel an Sportmagazinen. 

Hat der deutsche Markt wirklich auf Socrates gewartet?

Natürlich haben wir nicht einfach von jetzt auf gleich angefangen. Wir haben Marktforschung betrieben, eine Zielgruppe definiert und dergleichen mehr. Doch grundsätzlich sage ich: Keiner hat auf uns gewartet. Auf die Bild-Zeitung übrigens auch nicht. Jede andere Zeitung oder jedes andere Magazin könnte hier ebenfalls stellvertretend stehen. Bleiben wir bei der Bild. Wenn Axel Springer sie nicht erfunden hätte, würden die Leute dann heute rumlaufen und sagen: Mir geht es nicht gut. Ich vermisse die Bild-Zeitung? Nein. Es gäbe sie eben einfach nicht. Socrates gibt es, weil unsere Inhalte Menschen wichtig sind. Wir wollen einen anderen Ansatz der Sportberichterstattung transportieren.

Socrates Slow Journalism

Wie sieht der aus?

Uns interessiert es nicht, nur an der Oberfläche zu kratzen. Wir geben der Geschichte Platz, Zeit und Tiefgang. Wir sind kein tagesaktuelles Medium. Unsere Artikel sollen zeitlos sein, geschrieben aus einer Haltung der Entschleunigung, des „Slow Journalism“.

Sorry, aber fundiert recherchierte, zeitlose Hintergrundstorys jenseits der Ergebnisberichterstattung bieten die 11 Freunde genauso. Wo ist euer Alleinstellungsmerkmal?

Vorneweg: Ich werde nie etwas Schlechtes über die 11 Freunde sagen. Ich lese das Magazin seit Jahren, es war eine große Inspiration für uns. Der Vergleich hinkt nicht. Trotzdem unterscheiden wir uns: Die 11 Freunde sind ein Fußballmagazin, wir ein Sportmagazin. Außerdem haben sich die 11 Freunde entschieden, in gewissen Themen klare Standpunkte einzunehmen: Die Redaktion sieht unter anderem die Kommerzialisierung des Fußballs sehr kritisch…

Sportjournalismus mit Tiefgang

… oder die Ultra-Kultur in den Stadien…

Ja, zum Beispiel.

Ist daran was verkehrt?

Nein. Es ist nicht schlecht oder falsch, was die machen. Wir machen es halt nur anders. Wir lassen uns von einer Grundfrage leiten: Was denkt unser Protagonist? Wir wollen, dass er seinen Gedanken freien Lauf lassen kann. Natürlich stellen wir Fragen, haken nach, aber wir bewerten seine Einstellung so wenig wie möglich. Wenn man so will, lassen wir Sportlerinnen und Sportler öffentlich denken.

Was Fußballer so denken, erfährt die Nation unter anderem am Sonnabend bei den Interviews nach den Spielberichten in der Sportschau. Sie „freuen sich über das Tor, aber wichtig ist der Erfolg der Mannschaft“, das nächste Spiel wird „verdammt schwer“ und „der Bock muss umgestoßen werden“. Ketzerisch gefragt: Ist gerade in der Fußballbranche genügend intellektuelles Potenzial vorhanden für euer Konzept?

Auf alle Fälle. Man sollte die Spieler nicht unterschätzen. Viele Fußballer wollen sich positionieren – und haben was Interessantes zu sagen. Und wir wählen ja nun auch nicht einfach irgendwen aus. Mittlerweile haben wir es geschafft, Socrates als Marke zu etablieren. Wenn wir eine Anfrage für ein Interview stellen, dann weiß unser potenzieller Interviewpartner: Tiefgang ist gefragt.

Okay, aber was ist mit der Armada von Pressesprechern und Medienabteilungen bei den Proficlubs, die die Masse der Fans lieber mit weichgespülten Statements der Stars füttern wollen? Stoßt ihr da nicht an eure Grenzen?

Nicht so häufig. Klar, manche Vereine sagen: Wir wollen das nicht. Aber die Sportler, die clever handeln und etwas aus sich machen wollen, die positionieren sich. Deren PR-Berater haben eben auch einiges an Macht, die ist manchmal sogar größer als die der Clubs. Natürlich sprechen die Spieler mit der Bild-Zeitung, aber eben auch mit uns.

Sportjournalist werden - aber wie?

Noch nie den Fall erlebt, den der Playboy gerade beklagte? Ein Interview – in diesem Fall mit RB Leipzig-Sportdirektor Ralf Rangnick – welches nach der Autorisierung nur noch wenig mit dem ursprünglich Gesagten zu tun hat, weil eine von Rangnick beauftragte Agentur es völlig auf links gedreht hat…

Manchmal wundert man sich schon, was weggestrichen wird. Kritische Fälle gab es zweimal. Einmal ging es noch, da waren die besprochenen Änderungen normale Verhandlungsmasse. In dem anderen Fall sagte ich: Das drucken wir nicht. Ich habe mit dem Berater gesprochen und ihn gefragt: Was erwartest du dir denn davon, wenn wir dieses Interview so bringen? Nur damit irgendwo irgendwas über deinen Spieler erscheint, sind wir definitiv das falsche Medium.

Was waren denn deine Höhepunkte der bisherigen 17 Hefte?

Es gab so viele. Als Formel 1-Weltmeister Sebastian Vettel mit uns über seinen Traum von einem Titelgewinn mit Ferrari sprach, weil sein Vorbild Michael Schumacher ebenfalls im Ferrari die WM gewann, war das klasse. Im aktuellen Heft durfte unser Autor Jannik Schneider bei Wasserfreunde Spandau 04, dem erfolgreichsten Ballsportverein Europas, hinter die Kulissen schauen. Sogar bei der Ansprache vor dem Wasserball-Champions- League-Spiel gegen die Ungarn aus Eger, eines der besten Teams in Europa, saß er mit in der Kabine. Es ist ein toller Artikel geworden. In bester Erinnerung ist mir das Interview mit Oliver Kahn geblieben. Es kam an einem Donnerstag raus, an dem die großen Sportmedien allesamt mit dem Gerücht aufmachten, Kahn werde neuer Sportdirektor beim FC Bayern. Bei uns sagte er glasklar: Er wird es nicht!

Ihr wollt zeitlos sein und wart in aller Seelenruhe aktueller als die im Tagesbetrieb surrenden Online- und Printmedien? Lustig.

(lacht) Es war ein sehr interessanter Fall. 

Die Süddeutsche Zeitung schrieb im Oktober 2016 über euer erstes Heft, es sei „noch nicht der ganz große Sport“, aber es sei „noch kein Weltrangenlistenerster vom Himmel gefallen“. Klopft ihr mittlerweile ganz oben an? 

Zunächst möchte ich sagen, ich freue mich, dass uns die Kollegen der Süddeutschen Zeitung damals wahrgenommen und rezensiert haben. Sofort Weltranglistenerster wollten wir nicht sein. Dann gäbe es ja gar keinen Weg nach oben, keine Entwicklung. Die ist bei uns deutlich zu erkennen und sehr positiv. Der Spitzenplatz ist natürlich ein schönes Ziel. Doch jeder Tennisspieler weiß: Nicht nur Grand-Slam-Siege verleihen ein gutes Gefühl.

Wie ist überhaupt euer Verhältnis zu anderen Medien? Wird aufgegriffen, was ihr berichtet?

Ja, öfter. Dabei ist es sehr spannend, was zitiert wird. Bayern Münchens Abwehrspieler Mats Hummels gab uns zum Hauptthema der aktuellen Ausgabe, „Stolz“, ein Interview. Intelligent, reflektiert, sehr viele kluge Gedanken drin. Hängen blieben seine Aussagen zu den Interviews von Sportlern, die aus seiner Sicht aufgrund der Entwicklung in der Medienwelt kaum noch Relevantes preisgeben: „Alles nur hohe Phrasen. Wir werden uns alle mit viel Nichtssagendem abfinden müssen.“ Diese beiden Sätze wurden überall rauf und runter zitiert.

Wie läuft bei euch die Themenfindung und Auftragsvergabe? Ist das eine redaktionsinterne Angelegenheit oder haben freie Autoren eine Chance?

Fatih Demireli, Socrates Magazin 

Fatih Demireli, Socrates Magazin 

Das Hauptthema unserer Ausgabe, welches wir in der Rubrik „Centre Court“ beleuchten, wird von der Redaktion ausgetüftelt. So wie jetzt „Stolz“ oder in einem anderen Heft zuvor „Wandel“. Auch zur kommenden WM haben wir uns was ganz Spezielles überlegt. Inhaltlich greifen wir für das Heft auf unsere feste Redaktion und eine Reihe von freien Autoren zurück. Wenn jemand noch nicht für uns geschrieben hat und mich kontaktiert, sage ich meistens, er möge eine Mail an die Redaktionsadresse schicken und den roten Faden der Story skizzieren. Dort wird dann entschieden.

Eine Mail? Mails versanden doch häufig!

Jeder erhält eine Antwort. Das kann ich versprechen. Wenn Referenz, Expertise und Story gut sind, geben wir freien Autoren gerne eine Chance. Gute Möglichkeiten bestehen bei neuen Sportarten, das Cover-Interview hingegen führen wir zum Beispiel grundsätzlich selbst.

Und was zahlt ihr?

Das hängt von mehreren Faktoren ab. Länge, Aufwand, Exklusivität, Platzierung. Einen Pauschaltarif wie 250 Euro pro Seite oder so gibt es bei uns nicht. Ist also Verhandlungssache. Man kommt zusammen oder nicht. Dass jemand sinnbildlich gesprochen vier Euro verlangt und nur einen kriegt, kommt aber nicht vor. Bei uns verkauft sich keiner unter Wert und es verarmt keiner.

Du hast als freier Journalist eine ganze Menge erreicht. Welches Beraterpaket kannst du für junge Berufseinsteiger schnüren?

(lacht) Erster Punkt: Geduld haben. Zweiter Punkt, bezogen auf meinen Bereich: Sich für den Sport in seiner Gesamtheit begeistern. Nicht nur für das, was viele wollen. In meiner Zeit bei Spox erlebte ich Praktikanten, die mich an ihrem zweiten Tag fragten: „Wann darf ich denn jetzt mit auf das Trainingsgelände des FC Bayern?“ Ich habe dann gesagt: „Sicher bald. Aber lerne doch erst. Kriege ein Gefühl dafür, was Nachrichten überhaupt sind. Was ist eine Meldung wert? Wie schreibe ich die? Fange bei den Basics an. Der FC Bayern läuft dir nicht weg.“ Dritter Punkt: Viel lesen. Journalistisches und anderes. Das schult das Gefühl für Sprache und für Journalismus. Vierter Punkt: Viel konsumieren, wenn es um das eigene Herzensthema geht. Immer auf dem neuesten Stand sein. Und jetzt kommt das Allerallerallerallerallerwichtigste!

Die Spannung steigt…

Liebe zum Detail entwickeln. So, und nur so wird ein Journalist unique. Ich habe erlebt, wie Bayerns Thomas Müller vor 50 Reportern gesprochen hat. Mitgeschrieben haben drei. Der Rest dachte sich wohl: Hole ich mir nachher aus der Agentur. Oder: Kann den Kollegen ja später anrufen, wenn ich was nicht mitkriege. Diese Denke ist falsch! Eine Silbe, ein Wort, eine Geste, so gut wie alles kann eine Story sein und sie verändern, plötzlich eine völlig neue Richtung aufzeigen. Wer da hellwach ist, konzentriert, aufmerksam und fokussiert, der hat einen klaren Vorteil. Bei Fotos ist das nicht anders. Im Zweifel das Bild neu bearbeiten – und die Szene besser transportieren.

Bei aller Liebe zum Detail: Der Online-Journalismus boomt, Print leidet. Bleibt nach dem Exitus des Printbereichs überhaupt die Zeit für eine solche Detailtreue in einer bald vollständigen Online-Medienwelt?

Print wird nicht sterben. Es wird Print immer geben. Selbst in einer Gesellschaft mit viel weniger Zeitungen werden die Menschen immer etwas in der Hand haben wollen. Das merke ich an meinem Medienkonsum. Trotz Handy, PC und Tablett lese ich den kicker, die SportBild und die 11 Freunde in gedruckter Form, um nur drei Beispiele zu nennen. Die Akkus meines Handys und meines Tablets können alle sein, die meiner Zeitung nicht. Ja, die Menschen lesen mehr online. Doch sie neigen dazu, im Netz weniger die langen Geschichten zu lesen. Es geht ihnen eher um aktuelle Informationen. Darin liegt die große Chance für Print: Das emotionale Bedürfnis der Menschen nach spannenden, informativen und wahren Geschichten aufzunehmen und die Themen mit Tiefgang zu bearbeiten. Die Süddeutsche Zeitung macht das zum Beispiel ganz wunderbar vor. Da wird das jeweilige Thema extrem gut recherchiert und ganz tief ausgeleuchtet. Das honorieren die Leser. Der Online-Journalismus wird den Print-Journalismus in Deutschland niemals vollständig ersetzen.

Finde Fatih Demireli auf: Twitter.

Siehe auch: 

Interview mit Mirko Schneider

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