„Ich fange mit dem Lebensgefühl an“: Das ABC des Magazinmachens von York Pijahn

Foto: Stefan Thurmann

Foto: Stefan Thurmann

York Pijahn hat Magazine wie den FAZ Hochschulanzeiger und die – leider wieder eingestellte – Cord entwickelt. Der freie Journalist und Kolumnist lebt in Hamburg und Berlin, hat die Henri-Nannen-Ausbildung durchlaufen und unterrichtet seit Jahren Storytelling an der Akademie für Publizistik. Uns verrät er, warum gute Magazine ihre Leser schmücken, wieso man bei Themenfindung nicht auf dicke Hose machen darf und was Reportagen mit Spaghetti Bolognese zu tun haben.  
 

Wenn es um die besten deutschen Magazine geht, nennen die meisten das Zeit- und das SZ-Magazin – die sich aber nicht am Kiosk behaupten müssen. Gerade ist die letzte Ausgabe von Cord erschienen, auch die Neon gibt es nicht mehr — das erfüllt nicht gerade mit Hoffnung, dass gut gemachte Print-Magazine noch lange gekauft werden. 

Klar ist das schwierig. Aber wenn es um Print  geht...ich persönlich habe abends nicht das Bedürfnis, noch etwas Digitales lesen zu wollen, mir ist abends alles was mit Bildschirmen zu tun hat, zu viel. Ich fühle mich so durch den Tag gepeitscht, da wirkt das Analoge beruhigend. Außerdem mag ich das Magazin als ein Objekt in meiner Wohnung. So geht es sicher nicht allen — aber vielleicht doch einigen. Magazine geben einem die Chance, abzutauchen. Während ich das SZ-Magazin lese, bin ich für kurze Zeit in Gesellschaft dieser feingeistigen, smarten, coolen Autoren, ich gehöre für kurze Zeit dazu, diesen Effekt mag ich.

Wie können wir uns eine Magazinentwicklung mit dir vorstellen? 

Zunächst brauche ich ein Gefühl für die Zielgruppe. Zum Beispiel beim FAZ Hochschulanzeiger: Schreibe ich für Erstsemester, die sich orientieren wollen oder für die, die fast fertig sind und bald einen Job brauchen? Als Nächstes frage ich mich: Was ist die gefühlte Lebenssituation? Im Fall von Cord war es ein Spagat zwischen Arbeit, Familie und dem Wunsch, Zeit mit sich selber zu verbringen. Bei jeder Magazinentwicklung schreibe ich einen Text, der meist ähnlich beginnt, mit den Worten: „Wir kennen doch genau dieses Gefühl ...“. Ich investiere sehr viel Zeit darein, dieses Lebensgefühl zu ergründen. Daraus leite ich ab: Wie will dieser Mensch unterhalten und informiert werden? Welche Geschichten sind für ihn relevant? Im Falle von Cord hatten wir das Gefühl, dass bei diesem Mann gerade sehr viel los ist. Er muss also nicht zusätzlich angetrieben werden. Er braucht eher Entlastung. Daraus ergaben sich sowohl Themen als auch eine Tonalität.

Keine Selbstoptimierungs-Geschichten. 

Genau, dem Mann, der Cord liest, müsste man eher sagen: Ich finde, du machst es schon bombig und kannst ruhig ein paar Sachen weglassen. Dieser sehr emotionale Punkt, die Sehnsucht nach irgendwas, der Wunsch, verstanden zu werden, der Wunsch, man selbst sein zu dürfen – das sind Zugkräfte, die in vielen Magazinen funktionieren. Auch wenn es ein bisschen nebulös ist: An so ein Gefühl ranzukommen ist das Entscheidende. Und wenn man nicht selber Teil der Zielgruppe ist, muss man sich in diesen Leser hineinfühlen können. 

Halten wir fest: Um ein gutes Magazin zu machen, muss man Menschen verstehen. 

Das glaube ich. Vor einiger Zeit habe ich ein Magazin für einen italienischen Auto-Hersteller entwickelt. Zuerst waren die typischen Gedanken da: Bei so einem Automagazin muss es um Vergaser und Motoren gehen. Wir wussten aber aus den Daten: Die Menschen, die dieses Auto kaufen, verstehen nichts von Technik. Klischeehaft formuliert, setzen sie sich in dieses Auto und sind gefühlsmäßig im Italien-Urlaub. Meine Herangehensweise ist, dieses Gefühl nicht zu belächeln, sondern ernst zu nehmen. Ich glaube stark an authentische, emotionale Ansprache und das gelingt vielen Magazinen auch sehr gut. Super Beispiel: Walden. Das machen wirklich Menschen, die nach Feierabend in den Wald fahren, und das sieht man dem Heft auch an. Da ist keine Ironie-Hintertür eingebaut, die meinen es ernst und dadurch nimmt man den Leser ernst.

Stichwort Daten. Welche Rolle spielen sie? 

Eine sehr große. Marktforschungsergebnisse machen die Sache sicher und belastbar. Wenn man Produkte in einem Heft hat – Beautyprodukte, Kleidung, Möbel – muss man wissen, wie viel Geld die Leser zur Verfügung haben. Es macht auch einen Unterschied in der Ansprache, wenn man weiß, wer der Leser ist, wo er lebt, was er arbeitet, etc. Und man kann über Daten natürlich einen Hinweis bekommen, ob es die von mir angenommene Lesergruppe überhaupt gibt. 

Und womit fängt man an: Mit einem Datensatz oder mit dem Lebensgefühl? 

In meiner Erfahrung mit dem Lebensgefühl – wenn jemand eine Beobachtung macht. Die Daten müssen diese unterstützen. Ich kenne keine Magazinentwicklung, die mit einem Datensatz angefangen hat, aber das muss nichts heißen, weil ich ja auch nicht alles weiß. 

Ein Magazin braucht auch eine Struktur. Wie entwickelt man die? 

Auch hier würde ich auf die Bedürfnisse der Leser schauen. Bei so einem Studentenmagazin könnten die großen Themen sein: Prüfungsvorbereitung / Job finden / Party und Spaß. In einem Frauenmagazin könnten das Mode, Reise und Psychologie sein. Da kann ich so eine Art Dreiklang entwickeln. Die meisten Magazine funktionieren mit einer Dreier-, Vierer- oder Fünfer-Struktur. 

Wie ein Drama. 

Ja, aber ich würde sagen, das sind erstmal nebeneinander liegende Welten. Damit kann man erstmal gut arbeiten, oder man bricht bewusst damit. Aber am Anfang macht man es sich mit so einer Rubrizierung leichter. Es ist ein guter Arbeitsschritt, sich diese Klarheit zu verschaffen. 

Der klassische Magazin-Aufbau sieht oft so aus: Vorne News und kurze Stücke, hinten was Längeres, da darf es ernster werden, und dann noch was leichtes zum Schluss. 

Kann man so machen, aber gerade setzen viele vorne eher auf übergroße Optik. Myself oder Hygge starten mit einem ultra gut gemachten Bilder-Essay. Ich glaube, das können Zeitschriften eben auch gut: große Fotooptik, schwelgerische Bilder, die eine Art Gefühlspanorama zeigen. Die kleine, smarte Nachricht braucht in Magazinen einen besonderen Dreh, denn alles was News ist, ist ja in Magazinen oft old news, da ist online ja viel schneller.

„Schmückt mich das Magazin, das ich öffentlich lese?“

Hast du noch einen Rat für junge Journalisten, die zum ersten Mal ein Magazin oder eine Sonderbeilage entwickeln müssen?

Ich würde mich immer fragen: Wie leicht fällt es mir, das Magazin ins Altpapier zu werfen? Das muss richtig Schmerzen verursachen. Und noch was: Schmückt mich das Magazin, das ich in der Öffentlichkeit lese? Oder hoffe ich, dass mich niemand damit sieht? Viele SZ-Leser zeigen sich sicher auch gern mit der SZ unterm Arm, weil es etwas über mich aussagt, weil es eben eine Marke ist, mit der ich mich assoziiere. Die Marke sagt aus: Ich bin ein liberaler Weltbürger, gut informiert, Feuilleton-affin. Draußen oder sagen wir im Bordrestaurant des ICE den Playboy zu lesen, das ist ja eher ein seltsames Signal, das ich da sende – keine Frau würde so einen Mann ansprechen, oder? 

In ein Magazin gehören gute Geschichten. Wie lernt man, sie zu schreiben?  

Erstens sollte man bei jeder Reportage und jedem Interview kurz nachdenken: Will ich hier wirklich etwas Relevantes erfahren, habe ich echte Fragen oder muss ich mich zwingen, eine Neugier zu entwickeln? Wenn ich mich zwingen muss – nicht gut. Zweitens: Kann ich mit der Geschichte eine Verbindung zum Leser herstellen? Wir alle lieben das Bekannte in einer Variante. Das komplett Fremde ist schwerer zu erzählen als eine Geschichte, die zwar schräge Elemente hat, mit der sich die meisten aber trotzdem identifizieren können. Und ich bin ein großer Fan von Geschichten mit starken Protagonisten. Diese Figur braucht ein relevantes Problem, sie muss vor einer Herausforderung stehen – und es schaffen oder scheitern. Dann: Zugang. Ich muss die Chance haben, mit der Person Zeit zu verbringen, etwas zu erleben. Und natürlich schreiberisches Handwerkszeug. Ich finde aber, Geschichten müssen nicht ganz perfekt sein, solange sie authentisch sind. Eine gute, detaillierte Beobachtung ist oft schöner als glatt geschliffene Sätze.

Du unterrichtest Storytelling. Für alle, die nicht wie du die Henri-Nannen-Schule besucht haben: Dein Tipp, wie man auf gute Themen für Reportagen kommt? 

Ein gutes Thema für eine Reportage findet man, wenn man das Gefühl hat, dass man über etwas eigentlich einen Film drehen will, statt einen Text zu schreiben. Alles, was kracht. Starke Protagonisten, mit denen man etwas erleben kann – oder die detailliert nacherzählen, was ihnen passiert ist. Ein Überlebender der Titanic ist für eine Reportage geeignet, wenn er genau davon erzählen kann. Es braucht die Elemente Action, Drama und ein Problem, das entweder gelöst oder nicht gelöst wird. Das ist die Kurzantwort, man könnte dazu sehr viel mehr sagen natürlich, es gibt ja ganze Bücher und Seminare dazu.

Reportagen leben von Details – wie findet man die richtigen? 

Wenn ich über eine Figur schreibe, entwickle ich ein Gefühl für sie. Die Szenen und in diesen Szenen die Details sollten dieses Gefühl bestätigen. Schreibe ich zum Beispiel eine Geschichte über einen Surfer, und ich hab das Gefühl, er hängt sich viel mehr rein als alle anderen, eignet sich zum Beispiel die Szene gut, in der er seine Handschuhe auszieht und darunter ganz blutige Hände hat. Dieses Detail zahlt auf den Eindruck ein, dass er von seiner Sache besessen ist. Die Auswahl der Szenen sollte so geschehen: Hat es einen Schauwert? Würde ich die Kamera anmachen? Und belegt es meinen Eindruck von dieser Figur? 

In deinem Reportage-Kurs an der Akademie für Publizistik habe ich gelernt: „Stärkste Szene an den Anfang, zweitstärkste am Schluss“. Eine ähnliche Struktur haben viele  Reportagen. Wie stellt man sicher, dass man nicht irgendwann nur noch nach Schema X erzählt? 

An der Akademie geht es metaphorisch gesprochen darum, eine gelungene Bolognese hinzukriegen. Das ist narrensicher. Wenn die erstmal schmeckt, kann man unendlich viel variieren. Man kann mit dem Schluss anfangen, in der Chronologie springen. Mit einem persönlichen Statement anfangen. Es gibt so viele Varianten. Dieses Schematische macht bei manchen Sorten von Geschichten Sinn, jenseits des Rasters ist aber unglaublich viel Raum, das viel unkonventioneller zu machen. 

„Keine Angst vor Peinlichkeit haben“

Was sollte man noch beachten?

Wichtig wäre, dass der erste Satz nicht zu kompliziert ist. Und es schadet nicht, mit einem starken Gefühl zu beginnen. Das muss nicht notwendigerweise in der Form einer ausgemalten Szene sein. Aber es muss stark sein. Warum sollte man sich bei dem heutigen Überangebot sonst in einen Text einarbeiten?  

Arbeitest du eigentlich noch als freier Autor? 

Ich schreibe für meine eigene Firma und die myself-Kolumne. Da schlage ich jeden Monat drei Themen vor und eins dürfen sie sich aussuchen. Mittlerweile sind es 100 Kolumnen, ich muss mir also permanent Themen ausdenken. 

Und wie stellst du sicher, dass dir die Themen nicht ausgehen? 

Man darf nicht auf dicke Hose machen und keine Angst vor Peinlichkeit haben. Ein Beispiel: Ich habe vor kurzem in einem Team gearbeitet, wo alle sehr viel jünger waren als ich. Ich war plötzlich für die „Geschichten von früher“ zuständig, ein 45-Jähriger unter 30-Jährigen. Ein sehr unangenehmes Gefühl. Was ich mir für Tricks überlegt habe, um jugendlicher rüberzukommen! Ich habe mindestens in einer Themenkonferenz erzählt: „Kürzlich beim Joggen ist mir eingefallen...“, weil ich super-dynamisch rüberkommen wollte, irgendwie jung, egal wie. Ich habe mir ein iPad gekauft, das ich definitiv nicht gebraucht habe. So etwas ist ein super Anlass für eine Kolumne. Es ist eigentlich ein Nicht-Thema, aber weil es ein starkes Gefühl hat – Scham und Trickserei – und weil es vielleicht anderen auch so geht, funktioniert es als Thema.

Du arbeitest an drei verschiedenen Orten. Wie sieht deine Woche eigentlich aus? 

Ich fange immer so um neun Uhr an. 20 Stunden die Woche bin ich bei Gruner + Jahr in der Entwicklung. Und ich bin so für circa zehn Stunden für meine Firma in der HafenCity. Und 1,5 Tage arbeite ich von Berlin aus, wo meine Familie ist. Also ein bisschen weniger als 40 Stunden. Ich bin kein Fan von ganz vielen Arbeitsstunden. Wenn man das mit den starken Gefühlen ernst nimmt und etwas Originelles produzieren möchte, kann man das in so einer Frequenz gar nicht machen. Oder ich zumindest nicht, ich bin dann zu platt.  

Lohnt sich das finanziell noch, lange Reportagen zu schreiben? 

Auf jeden Fall. Ich glaube, Magazine sind heutzutage personell so schmal ausgestattet, dass sie auf Freie angewiesen sind, die viele Themen vorschlagen.

Und doch berichten viele freie Autoren eher über mühsames Klinkenputzen. 

Vielleicht treten sie falsch an Redaktionen heran. Ich würde zum Beispiel nicht bei Walden anrufen und ihnen vorschlagen: „Ich würde gern etwas über Camping in Wald machen.“ Sondern: Hallo ich würde gern für euch arbeiten. Was sollte ich euch anbieten, das euch das Leben leichter macht? Was braucht ihr?“

Also auch hier: Auf die Bedürfnisse schauen. 

Genau. Vielleicht sagt der Redakteur: „Wir brauchen irgendein Indoor-Thema, weil wir gerade ein Winterheft machen“. Oder: „Wir haben viele Psycho- und Modegeschichten, aber uns fehlen gerade überraschende Reisegeschichten.“ Dann kann man konkreter anbieten. Wenn man dann noch fragt, wann ein guter Zeitpunkt ist, um ihnen Themen vorzuschlagen, weil sie ja vielbeschäftigt sind, dann wissen sie: Man kapiert, wie so eine Redaktion tickt. Man sollte auch die letzten beiden Ausgaben gut kennen. Liefert man am abgesprochenen Tag in der richtigen Länge ab, macht die Überarbeitung innerhalb von zwei Tagen und ist für Feedback per Handy erreichbar – dann ist man vielleicht bald Teil des Autorenpools. Immer davon ausgehend, dass das, was man macht, gut ist.

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